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February

2024

Recht ströme wie Wasser

Dorothea Höck

Predigt von Pastorin Dorothea Höck
über Amos 5, 21-24 (Estomihi) am 10./11. Februar 2024

Liebe Gemeinde,

Ich hasse und verachte eure Feste und mag eure Versammlungen nicht rie­chen und an euren Speisopfern habe ich kein Gefallen, und euer fettes Schlachtopfer sehe ich nicht an. Tut weg von mir das Geplärr Eurer Lieder; denn ich mag Euer Harfenspiel nicht hören!“

Aus jeder Silbe dieser Rede spricht Überdruss: Gott kann sie nicht mehr riechen, die Feste, Gottesdienste und Opfer - er hat die Nase voll. Später erfahren wir, was es mit dieser Kritik auf sich hat: Denn König Jerobeam im Nordreich erbost sich über die Rede des Propheten Amos: sein Hofprophet Amazja muss ihm ausrichten: „Du Seher, geh weg und flieh ins Land Juda und iss dort dein Brot und weissage daselbst. Aber weissage nicht mehr in Bethel; denn es ist des Königs Heiligtum und der Tempel des Königreichs.“ Da haben wir's: Nicht Gottes ist das Heiligtum, sondern Jerobeams. Dem König gehört der Tempel. Gott will die Selbst-Beweihräucherung der Mächtigen und ihrer Höflinge und Gehilfen nicht länger ertragen. Das duftet nicht, sondern stinkt ihm. Die hebräische Sprache hält für Nase und Zorn das gleiche Wort bereit. So wird Gottes Zorn auch immer mal als Schnauben der Nase beschrieben. Wir können also folgern: Wenn Gott die ihm dargebrachten Opfer nicht mehr riechen mag, dann wird es wirklich ernst!

Der Prophet Amos ist sein Sprachrohr. Er muss den Missbrauch des Heiligen beim Namen nennen. Dabei sind die Gottesdienste und Lieder selbst nicht der Skandal, sondern die betrügerischen Absichten, in denen sie stattfinden. Die Gottesdienste sind verwahrlost zu Menschendiensten. Salopp gesagt: die Rauchschwaden von den Altären sollen Gott Augen und Hirn vernebeln und die Harfenklänge seine Ohren verstopfen für die Klagen der Unterdrückten und ihrer Rechte Beraubten.

Doch Gott lässt sich weder von den Düften der Opfer an der Nase herumführen nochbetrügen. Er weiß, was die falschen Tempeldienste vertuschen sollen. Amos zählt an anderer Stelle die Misstände auf, wie sie im Umfeld der Heiligtümer Bethel, Gilgal und Beerscheba und am Hofe des Königs Jerobeams grassieren: sie verwandeln das Recht in Wermut und stoßen die Gerechtigkeit zu Boden. Sie bedrängen die Gerechten und nehmen Bestechungsgelder. Sie lassen die Armen im Tor bei Gericht nicht zu Wort kommen und hassen die gerechten Richter. Sie verabscheuen den, der die Wahrheit sagt. Sie unterdrücken die Armen und erpressen von ihnen hohe Abgaben an Korn.

Solche Rechtsbrecher versammeln sich dann zu den Feiertagen in den Heiligtümern, opfern Gott und singen ihm schöne Lieder.

Gibt es heute Vergleichbares? Ich glaube schon – überall, wo Menschen das Heilige, die Religion für ihre eigenen Zwecke benutzen. Wo sie sich mit kirchlichen Ämtern zum Beispiel in der Gesellschaft einen guten Namen machen wollen statt sich ernsthaft den damit verbundenen Aufgaben zu widmen. Kurz und bündig: überall dort, wo Wort und Taten nur Lippenbekenntnisse sind , aber das entsprechende Handeln nicht stattfindet. Auf Sand gebaut sind solche Worte und Taten. Sie halten strömendem Wasser nicht stand.

Worum es geht, bringt auch der Prophet Micha auf den Punkt (Micha 6,8): Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.

Wobei wir ergänzen können: „Es ist Dir gesagt, Mensch, was gut für Dich ist.“

Denn Gott will das Gute für uns. Deshalb sollten wir sein Wort nicht nur hören, sondern tun: Das ganze Leben ist ein Gottesdienst, nicht nur die paar Stunden im Tempel oder in der Kirche.

Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“

Wir wissen, dass Wasser in Israel etwas sehr Kostbares ist. Wenn Recht wie Wasser strömt und Gerechtigkeit zur nie versiegenden Quelle wird, ist das der höchste Ausdruck von Fülle und Überfluss. Vielleicht ist es sogar als Kraft gemeint, die alles andere wegspült, so wie eine Springflut in einem ausgetrockneten Bachbett nach einem Sturzregen. Warum auch nicht: Gottes Herrschaft hat im Vergleich zur beschriebenen korrupten Menschenherrschaft etwas Umstürzendes! Genau davor fürchten sich ja Despoten wie Jerobeam.

Im April 1987 wandte sich eine Gruppe aus der Berliner Bartolomäusgemeinde an die Bundessynode der Evangelischen Kirche mit einem Aufruf zur Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung. Als Motto über diesen Aufruf stand: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Amos 5,24).

Der Aufruf wurde in der Synode diskutiert und sollte dann an eine größere Öffentlichkeit gelangen. Die Verfasser und Verfasserinnen riefen dazu auf, in einer polarisierten Welt, die auf Abschreckung vertraute, Frieden und Sicherheit auf völlig neuen Wegen zu suchen. Dazu sollte das Prinzip der Abgrenzung, die überall die Gesellschaft bestimmende Trennung in Gut und Böse, überwunden werden. Die ging ja bis zu den Mauern in den Köpfen. Stattdessen vertrauten die Christinnen und Christen aus der Berliner Gemeinde in die Mauern einreißende Kraft der göttlichen Gerechtigkeit. Dieses Vertrauen war eines der Fundamente dafür, dass zwei Jahre später in unserem Land viele tausend Menschen mit Kerzen statt Steinen in der Hand den bewaffneten staatlichen Kräften entgegengingen.

So hat unser Bibelvers auch in unseren Biografien Geschichte gemacht.

Bei unserem Bibelgespräch am Dienstag dachten wir darüber nach, was genau es mit der Gerechtigkeit und dem Recht auf sich hat: Ist es die Gerechtigkeit, die von Gott kommt? Ist es die Gerechtigkeit, die von Menschen ausgeht, wenn sie den rechten Gottesdienst auch im Alltag feiern?

Diese Frage lässt sich nicht klar beantworten – ich meine, das ist deshalb so, weil die Gerechtigkeit ein uns alle umfassender Begriff ist. Gerade erst lasen wir in der Bibelwoche aus dem Buch Genesis: Dort erfuhren wir, dass Gott mit Noah, seinen Nachkommen und der ganzen Schöpfung einen einseitigen Vertrag schloss, mit dem Inhalt: nie wieder ein Strafgericht zu vollziehen, das Schuldige und Unschuldige gleichermaßen vernichtet. Damit hat Gott sich selbst den Menschen gegenüber auf ewig festgelegt. D a s ist seine Gerechtigkeit. Erinnern wir uns an Abraham, als er von Gott erfuhr, dass dieser die Städte Sodom und Gmorrha vernichten wollte. Er begann mit Gott zuverhandeln (Gen 18):

Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären? Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so dass der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?“ Abraham erinnerte Gott an sein Versprechen, an die Gerechtigkeit, die Gott nicht nur den Menschen verordnet hat, sondern an die er sich selbst gebunden hat. Er handelte die Zahl der möglicherweise Gerechten herunter bis auf zehn: Zehn Gerechte hätten ausgereicht, um das Strafgericht gegen Sodom und Gomorrha zu verhindern.

Wir wissen, dass es nicht einmal zehn waren und nur Abrahams Verwandter Lot mit seiner Familie zu den Freunden Gottes gehörte. Die wurden von Gottes Engel aus der Stadt geleitet, bevor das Strafgericht hereinbrach.

Am 15. November 2023 hielt der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm die Eröffnungsrede zum Münchener Literaturfest1. Dort erzählte er die Abrahamsgeschichte im Hinblick auf die furchtbaren Ereignisse am 7. Oktober in Israel und das Strafgericht der israelischen Armee in Gaza. „Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen.“ Wenn das für Gott gilt – um wie viel mehr für uns Menschen! Die Gerechtigkeit steht über allem.

So macht uns die prophetische Verheißung Hoffnung - auch in den schlimmsten Zeiten.

Wir hier in der Gemeinde reden immer einmal darüber, welche Rolle der Konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung für unser Leben und unsere Gemeinde spielen kann. Wir können vom Propheten Amos Hoffnung lernen. Seine Anklage sozialer Missstände, sein Widerspruch gegen die Dynamik des Reichtums und der Gewalt ist nicht zu trennen von der Hoffnung auf eine Welt, in der das Recht strömt wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach (Amos 5,24), in der es nicht dunkel bleibt über denen, die in Angst sind (Jesaja 9,2), in der Traurige getröstet und Hungernde satt werden und endlich den Sanftmütigen die Erde gehört (Matthäus 5,5). Vertrauen wir auf die unerschöpfliche Quelle und bitten wir Gott, dass er jeden von uns zur Quelle seiner Gerechtigkeit macht.

Und der Friede Gottes, der größer ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Anmerkung: Die Rede Omri Boehms zum Münchener Literaturfest im Wortlaut hier: 1 www.sueddeutsche.de/kultur/omri-boehm-universalismus-1.6304278 , leider hinter Bezahlschranke. Wer sie dennoch lesen möchte, schreibe mir: dorothea.hoeck@gmx.de

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February

2024

Als Beschenkte beschenken wir einander

Christoph Kuchinke

Predigt am 5. Sonntag B (Mk 1,29-39)

Sie haben es erkannt, liebeSchwestern und Brüder, das „Halleluja“ von Leonhard Cohen vor Beginn unseres Gottesdienstes. Er als Jude mag den Juden Jesus. „Ich liebe Jesus. Das habe ich schon immer getan“, sagte er 1997 in einem Interview. „Ich kann auf Hebräisch beten, kann mit dem Boss hebräisch reden.“

„Er ist vielleicht der prächtigste Kerl, der je auf Erden herumgelaufen ist. Einer, der gesagt hat: „Selig sind die Armen, selig sind die Sanftmütigen“, muss eine Persönlichkeit von einzigartiger Güte, Einsicht und Verrücktheit gewesen sein. Ein Mann, der erklärt, er habe seinen Platz bei den Dieben, den Prostituierten, den Heimatlosen. Seine Position ist mit dem Verstand nicht zu fassen. Es ist eine unendliche Großmut. Eine Großmut, die die Weltordnung über den Haufen werfen würde, wenn sie Schule machen würde, denn nichts könnte diesem Mitgefühl standhalten. Die Persönlichkeit dieses Mannes hat mich berührt – auch wenn ich weiß, was im Laufe der Geschichte durch das institutionalisierte Christentum alles angerichtet worden ist.“

Leonhard Cohen, 1984. Dieses Lied, sagt er, ist aus dem Wunsch entstanden, meinen Glauben zu bezeugen und zwar mit Enthusiasmus und Gefühl. Seinem jüdischen Glauben.

Sie hätten sich wohl gut verstanden, der Jude Jesus von Nazareth und der Jude Leonhard.  

Worüber sie wohl heute reden würden? Über das, was aus den Positionen Jesu geworden ist, was sich entwickelt hat, was derzeit im Argen liegt?

Wie ist das bei Ihnen, bei uns, denken und glauben wir von der Fülle her oder vom Mangel?

Zur Zeit ist überall ja eher vom Mangel die Rede, bei den Finanzen, in der Politik, bei Fachkräften, bei Wohnungen und auch in den Kirchen herrscht Personalmangel, auch was die Mitglieder betrifft; beim Geld, na ja, weil da nicht so von geredet wird, wird’s da noch nicht so aussehen. Aber es wird schon gewarnt, was bald alles nicht mehr kommen wird und wo gespart werden muss.

Und da ist in Politik und Kirchen fast kein Unterschied... bzw. doch, weil Kirchenleitungen derzeit mehr mit sich selbst beschäftigt sind und dem beschädigten Bild von Kirche und wer wohl daran den größten Anteil hat und den Ängsten, wohin das alles führt. Festhalten an Privilegien. Macht und Strukturen, Angst und Befürchtungen, gerade in der Leitung, bringen nicht weiter, lassen kein Halleluja singen.

Ja, und wie denken wir bei uns selbst? Oder denken Sie, ich möchte jetzt gar nicht darüber nachdenken. Und außerdem soll hier ja eher von der Hoffnung die Rede sein, die uns erfüllt.

Hoffnungsvolles, das brauchen wir und war da eben bei Markus die Rede davon?

Ja, wirklich, ein bisschen mehr Heil, ein Heilungsprozess ganz hilfreich, weil es mit der Gesundheit, mit Beeinträchtigungen, manchem Leid gerade nicht leicht ist?

Könnten wir da nicht so einen Heiland, wie eben beschrieben dringend brauchen und da gibt es ja noch weitere solcher Heiland-Geschichten im 2. Testament.

Oder anders gesagt: Macht er gerade eine Pause, wie eben gehört, wo doch Krankheiten, Behinderungen, Ausgrenzungen, Hilfsbedürftigkeit, Besessenheit heute nicht weniger da sind.

Wäre dieser Heiland Jesus heute unterwegs, gäbe es da auch Wartezeiten von Monaten, volle Terminkalender, volles Programm? Gut, er musste bei keiner kassenärztlichen Vereinigung abrechnen. Er fragt nicht nach einer Krankenakte, nach Vorerkrankungen, Selbstverschulden, falscher Ernährung. Eine Diagnose – trifft er nicht, ein warum interessiert ihn nicht.

Was er macht:

Die Schwiegermutter des Petrus „fasst er an und richtet sie auf“; und anderswo heißt es, dass er die Menschen „ansah“, oft nicht anfasste und dennoch ins Leben schickte, manchmal mit einem Impuls, es künftig anders anzugehen das Leben, die Beziehung. Er nimmt Lasten ab, schenkt Freiheit, vergibt Schuld, weil Krankheit oft als Strafe gesehen wurde. Ja, und er hat auch geheilt, Kranke und Besessene, alle möglichen Krankheiten der damaligen Zeit.

Die, die sich innerlich zerbrochen fühlten, wie nicht heil und nicht richtig sein sollen und sich so fühlen. Sie erleben, dass Jesu Worte sie heilen, helfen ihnen ihr Leben so zu leben mit der Kraft, die sie haben.

Und alles, was sie leben, auch das Kaputte, das Versagte, lebt mit ihnen und das Strahlende lebt mit ihnen. Sie konnten es manchmal nicht spüren, aber sie sollten heil sein.

Da war dann plötzlich „Luft nach oben“, wie man heute so schön sagt, ganz viel Platz, ganz viel Zwischenmenschliches. Da war plötzlich wieder Zukunft.

Da hätten wir uns sicher auch eingereiht in die Menge der Hilfesuchenden.

Heilung, wer braucht das nicht? Dem Heiland begegnen, berührt, aufgerichtet zu werden, Schuld vergeben zu bekommen, Aussicht auf neues Leben. Nein, sich wahrhaftig neu, wieder lebendig fühlen und so leben.

Man wird nicht einmal und für immer geheilt, sondern immer wieder.

Die Geschichten vom „Heil - werden“ fangen immer wieder von vorn an. Und man schaut zurück und fragt, welche Wunde noch immer schmerzt und welche Narbe noch immer juckt und was eigentlich schon einmal geholfen hat. Außer „heile, heile Gänschen“ in der Kindheit.

Was hat mich stärker gemacht, als ich gedacht habe?

Ressourcen heißt das heute, Kraftquellen wie Musik, ein ganz bestimmter Ort, oder ganz anders: die Gewissheit, dass Liebe keine Gegenleistung erwartet.

Manchmal muss man allein sein, um zu heilen, und andere können einen krankmachen, unheil oder sind einfach zu anstrengend.

Und da ist noch etwas, da sind noch andere, für die er gekommen ist, zu predigen, das hieß damals die Schrift auszulegen, das Dämonische anzugehen und nicht links oder rechts liegen zu lassen. Ganz anders von Gott zu erzählen, als es damals die Regel war.

Oder, wie ich mir eigentlich Gott vorstellen darf: wie einen Raum voller Liebe, die sich nicht aufdrängt, ein Raum, in dem ich endlich heilen, heil werden kann.

Bei Jesus und seinen Heilungsgeschichten wirkt es oft so, als sei es ein Raum, wo sich zwei begegnet sind, manchmal ohne Erwartungen, ohne Druck, manchmal ganz gezielt, etwas drängend, hoffend. Und dann die Zuwendung, die Liebe, die freispricht und heilt.

Aber immer wieder ist er weg, nimmt sich eine Auszeit, selbst da oder gerade da, wo man sagen würde: jetzt geht das aber nicht, jetzt muss in Gottes Namen doch getan, geheilt, gehört, gehandelt werden. Die Menschen strömen nur so, es hat sich herumgesprochen, wie das immer so ist bei solchen Ereignissen. Doch Er lässt alles stehen und liegen und zieht sich zurück.

Es geht nicht anders, er kann nicht nur auf Hochtouren laufen, er braucht die Auszeit, um sich neu zu vergewissern, zu orientieren, ober noch das rechte Ziel verfolgt.

Vor lauter Aktivismus, unermüdlicher Tätigkeit – alles richtig undwichtig – will er das rechte Ziel nicht aus dem Blick verlieren.

Die Gefährten von Jesus blicken das nicht. Machen wir ihnen keinen Vorwurf, wir tun es auch nicht.

Er soll die Gunst der Stunde nutzen, die Woge des Erfolgs, dran bleiben, weitermachen, Eindruck machen bei den Menschen.

Einsamkeit und Gebet, das Gespräch mit Gott, Verweilen, weil Gott für ihn die Kraftquelle seines ganzen Lebens und Wirkens sind. Er weiß, ohne die Rückbindung zu Gott, kann die Bindung zum Nächsten nicht gelingen.

Das ist heute nicht anders, keinesfalls.

Eigentlich wissen wir das: so mancher Aktionismus, von einem Termin zum anderen, Druck von allen Seiten, natürlich auch global, alles im Blick behalten, Klima, Kriege, den Markt, den Gegner, den Gewinn, die Menschen, die nächste Wahl, die Position; was alles dabei verloren geht, oft unwiederbringlich, gerät aus dem Blick.

Jesus hatte damals noch keine Beratungsfirmen, keine Coaches, keinen Personaltrainer, und wovon hätte er sie auch bezahlen sollen.

Oder vielleicht doch, Coaching von seinem Vater, Gott, in der Stille, rechtzeitig, um dann wieder zurückzukehren, sich  den Menschen neu und erneuert zuzuwenden. Von ihm zu predigen, dem Gott der Menschen und der gemeinsamen Zukunft, dem Reich Gottes.

Darum geht es, es soll, es ist jetzt schon angebrochen, mit ihm.

Wer soll das verstehen, als Jude?

Im jüdischen Glauben ist das Konzept von einem himmlischen Leben nach dem Tod relativ selten, ist Himmel nicht so wichtig. Wie man das jetzige Leben verbringt ist wichtig. Damals und heute.

Ich las kürzlich folgende Begebenheit: Ein Mädchen in einer Synagogen-Schule in den USA, das Mädchen ist gehörlos. Eine Lehrerin sagt zu ihr: Mach dir keine Sorgen, in der kommenden Welt wirst du hören. Aber das Mädchen antwortete: In der kommenden Welt kennt Gott Gebärdensprache.

In diesem Antwortsatz steckt doch auch etwas noch anderes, der Wunsch nach einer Welt, wo jeder Gebärdensprache kennt, wo jeder Platz für Rollstuhlfahrer hat, wo Behinderung, Blindheit, Gehörlosigkeit, verstanden ist als ein Teil unseres Lebens.

Wo Menschen mit Einschränkungen, die anders sind, sich der Normalität anzupassen haben bzw. in sie eingepasst werden

Da sind wir wieder mitten im heutigen Evangelium, im Leben Jesus von Nazareth, in seiner Nachfolge. Innehalten, dieses Ziel neu in den Blick nehmen und die nötigen Konsequenzen auch wirklich ziehen und umsetzen, jetzt. Keiner und keine ist auszuschließen.

Da ist noch immens Luft nach oben. Da gibt es noch viel zu tun. Da sollten wir dabei sein.

Gut, dass wir da sind, hier und nach dem wir Ihm im Wort begegnet sind, ihm noch beim gemeinsamen Mahl zu begegnen und danach gestärkt, etwas heiler zu gehen und zu teilen.

Vor der Sendung kommt die Sammlung, vor dem Geben das Empfangen.

Nur als Beschenkter kann ich ein Schenkender sein, nur als Gesegneter ein Segnender.

Oh, Jeremias, ich wollte Dir nicht vorgreifen.

Als Beschenkte im gemeinsamen Glauben sind wir hier, zu feiern, was sollte uns aufhalten.

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January

2024

Ökumenische Bibelwoche 2024

Bruder Jeremias OSA

4. Sonntag im Jahreskreis B | Bibel-Sonntag zur Genesis
Einleitung

Papst Franziskus hat diesen Sonntag als Sonntag des Wortes Gottes ausgerufen. Das geschieht auch mit Blick und zur Vorbereitung auf das Heilige Jahr 2025.

Das Wort Gottes steht bei uns ohnehin schon ganz im Mittelpunkt, wenn wir jede Woche uns zum ökumeni­schen Bibelkreis treffen oder jetzt gerade die ökumeni­sche Bibelwoche begehen, die das Buch Genesis ins Zentrum rückt. Das soll auch in diesem Gottesdienst be­sonders in den Blick kommen.


Ich wünschte, ihr wäret ohne Sorgen“, schreibt Paulus den Korinthern (wir werden diese Lesung heute weglas­sen). Ja, das wäre in der Tat schön, all die Sorgen mal beiseite legen zu können und ganz aus dem Vertrauen auf Gott zu leben. Aber Sorgen sind nunmal hartnäckig; sie lassen sich nicht einfach abstreifen.

Und doch können wir sie mit hier an den Altar bringen, sie vertrauensvoll zu unserem HERRN tragen. Bei ihm sind sie gut aufgehoben. Wir müssen nicht alles alleine tra­gen, denn er trägt mit. Er ist und bleibt bei uns. In sei­nem Erbarmen wird er uns auch auf seine Weise helfen. Werfen wir unsere Sorgen auf IHN; denn ER sorgt für uns.

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January

2024

Mensch, Jona!

Bruder Jeremias OSA

3. Sonntag im Jahreskreis B
Moonlightmass mit Jazz (Vorabend)

„Das Reich Gottes ist nahe!“– Gott? Wo bist du denn?!

  1. Die Menschen in der Ukraine beten um die Niederlage Russlands, und Russland betet um den Niedergang des dekadenten Westens.
  2. Die Kämpfer der Hamas beten für die Vernichtung Israels, und die Siedler beten um Stärke und den endgültigen Sieg über die Hamas.
  3. Die Bauern wollen endlich die Anerkennung ihrer Arbeit; sie wünschen sich gerechte Preise. Und der Markt fordert massive Preissenkungen.
  4. Die Klimaaktivisten bangen um die Zukunft unseres Planeten, und wir alle wollen möglichst billig konsumieren: „Man gönnt sich ja sonst nichts!“
  5. Und wir Christen verkünden den allmächtigen, lieben Gott, der alle, alle liebt – und endlich die Welt vollendet nach unseren Vorstellungen.

„Da sagte ER zu ihnen: Kommt her, mir nach!“

nach einem Text von Silja Walter:

Gott,
und jemand muss dich aushalten,
dich ertragen, ohne davonzulaufen.

Deine Abwesenheit aushalten,
ohne an deinem Kommen zu zweifeln.

Dein Schweigen aushalten
und trotzdem singen.

Das muss immer jemand tun
mit allen anderen
und für sie.

Ach, lass dir den Protest meiner Liebe gefallen.

Einleitung (Sonntagsgottesdienst)

Die Verhaftung des Täufers Johannes markiert den An­fang der Verkündigung Jesu. Viele Menschen lassen sich seitdem von seinem Wort in Bewegung bringen. Zuerst sind es einfache Fischer vom See Genezareth. Bald wer­den es Menschen unterschiedlichster Herkunft sein.

Auch wir sind hier, um Ihm zu begegnen und sein Wort zu hören. Wird es uns treffen? Was wird uns heute bewegen?

Öffnen wir uns. Sind wir jetzt ganz Ohr. Lassen wir beiseite, was uns hindert, IHM zu begegnen – IHM nach­zufolgen. Ja, wir tun uns oft schwer, Gottes Wege zu verstehen – wie Jona, dieser eigenartige Anti-Prophet, der meint, sich Gottes Willen verweigern zu müssen. Wird Gott uns zur Nachfolge bringen? Uns und alle, die sich Christen nennen? Beten wir heute wieder besonders um die Einheit aller, die sich um Christus versammeln!

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January

2024

"Kommt und seht!"

Bruder Jeremias OSA

2. Sonntag im Jahreskreis B
Einleitung

Kommt und seht!“, so hat Jesus die Jünger eingeladen, die ihm folgen wollten. „Kommt und seht!“, diese Einla­dung Jesu gilt auch uns. Die Weihnachtszeit ist vorüber, der Alltag eingekehrt. Wir werden IHN im Alltag des Jahreskreises erfahren können, wenn wir IHM nachfol­gen, wie die Jünger, von denen wir heute hören.

Kommt und seht!“ Diese Einladung ergeht an Men­schen auf der Suche, an die Jünger damals und an uns heute. Wir sind gekommen. Wir wollen sehen und er­fahren, wer dieser Jesus ist. Wir wollen sein Wort hören und mit ihm zu Tisch gehen. Er schenke uns das Heil, das von Gott kommt!

Mit dem jungen Samuel antworten wir ihm: „Rede, denn dein Diener/deine Dienerin hört!“(1 Sam 3,10c).

Predigt

Am Anfang meines Klosterlebens legte uns der Novizen­meister diese Geschichte von der Berufung des Propheten Samu­el zur Meditation ans Herz. Mich hat sie damals sehr angerührt, weil ich mir mit meinen 20 Jahren so jung und unerfahren vor­kam. Und da war die Rede von einem kleinen Jungen, der schon von Gott gerufen wird und der später der große Propheten Sa­muel werden wird. – Heute spricht mich die Erzählung aus vielerlei anderen Gründen an.

Samuel – es war kaum zu erwarten, dass er geboren würde. Denn seine Mutter Hannah galt ja als unfruchtbar. Die Bibel er­zählt uns sehr anschaulich, wie Hanna darunter litt, kein Kind zu haben. Schließlich wird ihr Gebet erhört. Sie empfängt Sa­muel – um ihn dann doch wieder herzugeben: Gott zurück zu ge­ben.

Gott ruft den kleinen Samuel. Der Kleine hört seinen Namen. Er springt auf und geht – das ist nahe liegend – zu dem Menschen, der in seiner Nähe ist: zum alten Priester Eli. Er kann die Stimme Gottes von der Stimme der Menschen noch nicht unterscheiden. Und doch lernt er es in dieser Geschichte.

Ich bleibe hängen an der Stelle, an der es heißt: „Samuel kannte den Herrn noch nicht, und das Wort des Herrn war ihm noch nicht offenbart worden.“ – So geht es uns auch! Oder wer von uns kennt schon den Herrn? Wer kennt das Wort des Herrn, den Logos, wie wir an Weihnachten gehört haben – oder die Logik Gottes? Gott bleibt für uns, auch wenn wir getauft sind, der Dunkle. Unfassbar! Rätselhaft verborgener Gott! Kaum meinen wir, etwas von ihm verstanden zu haben, wird es uns erstrecht klar: Gott bekommen wir nicht in den Griff!

Samuel kannte den Herrn noch nicht“, sagt die Bibel – und doch spricht Gott ihn an! Der Mensch weiß noch nichts oder doch viel zu wenig von Gott, aber Gott spricht schon zu ihm. Ein vertrauter Mensch redet uns an, gibt uns einen guten Rat. Oft erst ganz spät und im Rückblick spüren wir: Da war noch mehr im Spiel. Das war Gott, der da gesprochen und an uns gehandelt hat!

Zum Glauben zu kommen heißt nicht, das und jenes für wahr halten. Glauben heißt vor allem wahrnehmen, dass Gott schon längst zu mir spricht, noch bevor ich es richtig begreifen kann. Gott ist schon früher beim Menschen, als der sich darüber be­wusst wird. Einander im Glauben zu bestärken heißt vor allem, uns in dieser Wahrnehmung zu bestärken. Beachtet das schöne deutsche Wort „wahr-nehmen“: ein aktives Wort! Wahr­heit ist im Deutschen selten etwas, das aus sich besteht und wirkt. Wahrheit kann sich nur dann als wahr erweisen, wenn sie auch so genommen wird!

Der kleine Samuel hört die Stimme Gottes. Ein anderer muss ihm helfen, dieser Stimme Gehör zu schenken. Der alte Priester Eli spürt: Da geschieht mehr, als an der Oberfläche sichtbar ist. Er lehrt dieses Kind einen einzigen, aber wichtigen Satz: „Wenn ER dich wieder ruft, dann antworte: „Rede, HERR, dein Diener hört!“ – Du willst Gott erfahren? Lerne zuerst hören! Glauben kommt vom Hören! Gottes Wort wahr-nehmen.

Wir Menschen missverstehen das manchmal. Da gibt es welche, die meinen, Gott würde ständig klare Anweisungen verteilen. Du musst nur die Bibel aufschlagen, behaupten sie; da findest du Antworten auf alle deine Fragen. – Bei mir klappt das nicht. Mei­ne Fragen stehen meistens nicht in der Bibel. Und die Antworten kann ich selten 1:1 auf mein Leben übertragen.

Will Gott, dass wir in der Bibel wie in einem Kochbuch blättern: „Man nehme…“?! Das kann und will ich mir nicht vorstellen, dass Gott uns so klein hält: Als dumme Menschen, die stur nach Vor­schrift handeln, ohne selber zu denken. Wie sollte das denn prak­tisch gehen? Auch in der Bibel schlagen Menschen die unter­schiedlichsten Strategien und Wege ein, ganz oft sind's eindeutig Irrwege. Kann ich da ernsthaft davon ausgehen, dass ich auf alle meine Fragen eine Antwort finde?

Die Bibel ist kein Kochbuch. Sie ist aber Wort Gottes im Men­schenwort. Sie ist eine Ermutigung, das Leben zu probieren, die Herausforderungen meines Lebens anzunehmen und als hören­der Mensch meinen Weg zu suchen. Das heißt als Mensch der aufmerksam bleibt für das, was in seinem Leben passiert und was Menschen ihm sagen oder zumuten (!); als Mensch der auf­merkt, weil er weiß, dass Gott schon zu ihm spricht.

Die Bibel lädt ein, die eigenen Erfahrungen mit den Erfahrungen der Menschen vor uns abzugleichen. In der Heiligen Schrift ha­ben sie ihren Niederschlag gefunden. Dieser Abgleich ermu­tigt, den eigenen, ganz individuellen Weg zu suchen. Der steht nir­gendwo (vorge-)schrieben. Es ist der Weg, der entsteht, indem ich ihn selber gehe.

Ist das zu schwammig? Zu unklar? – Mir nicht! Ich bin froh über diesen Gott, der nicht klein hält und bevormundet. Gott hält viel­mehr zu mir in all den Lebenslagen, in die ich gerate. Gott traut mir zu, dass ich seine Stimme höre. „Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir“ (Joh 10,27). Für so dumm hält Christus seine Schafe gar nicht!

Im heutigen Evangelium erklärt Christus den ersten Jüngern nicht sein „Regierungsprogramm“. Er verhandelt nicht mit ihnen, ob sie da mitkönnten. Er lädt sie ein, Erfahrungen mit ihm zu ma­chen und zu teilen: „Kommt und seht!“ (Joh 1,39) Das ist wichti­ger, als die richtige Lehre – oder die angebliche Antwort auf alle Fragen. Die wesentlichen Dinge sind nicht in Worte zu fassen. Das Wort muss Fleisch werden. Es muss auch in Fleisch und Blut erfahren werden. Und tatsächlich: Gott lässt sich in Jesus erfah­ren. Diese Erfahrungen mit Gott zu deuten, ist der Lernprozess und die Befähigung, das eigene Leben im Sinne Gottes gut zu ge­stalten – so kompliziert es auch verlaufen mag.

Da brauchen wir auch einander, damit wir auf die tiefen Erfah­rungen erst gestoßen werden. Wir brauchen einander, um gut hinhören zu können und aufmerksam zu werden. So wie Simon Petrus seinen Bruder Andreas braucht, weil er sonst dem HERRN vielleicht nie begegnet wäre. Menschen schlagen für uns Brücken zum Glauben: Ihre Begeisterung steckt an, ihre Überzeugung lädt ein! Ich brauche immer wieder Menschen, die mir helfen, meine Erfahrungen im Licht Gottes zu deuten und die mir so Gotteser­fahrungen erschließen.

Und dann muss ich selber losgehen! Selber mich auf den Weg machen, meine Erfahrungen machen – und selber die Antworten finden aus dem Geist des HERRN heraus, die noch nirgendwo ge­schrieben stehen. Das traut Gottuns zu! In unserem Alltag, im Kleinen wie im Großen, in unserem privaten Leben und auch im großen Leben der Kirche.

Auch in unseren ökumenischen Bemühungen dürfen wir uns nicht zu sehr von den Formalien bestimmen lassen oder von Aus­sagen wie: Das war schon immer so! Gott lässt uns nicht aus der Verantwortung, heute dieAntworten zu suchen, die wir heute auch brauchen. Im Hören auf den gemeinsamen HERRN wagen wir die Wege zueinander. Von den Rückschlägen sollten wir uns dabei nicht allzu sehr lähmen lassen.

Ein Trost bleibt: Leben ist nicht nur Anstrengung. Auch ein Leben aus dem Geist Gottes ist mehr als Anstrengung. Der Schlaf gehört ebenso in die Erfahrungen mit Gott. Dreimal sagt Eli zu Samuel: „Geh wieder schlafen!“ Glauben gelingt nicht in übertriebener Betriebsamkeit und großem Aktionismus oder dauernder An­spannung. Es braucht dringend diese Zeit des Leerwerdens, des Freiseins vom Zwang: „Der HERR gibt es den Seinen im Schlaf“ (Ps127,2). Es gibt das Recht und sogar die Pflicht, passiv zu sein! Es braucht die Zeit der Ruhe und Stille, damit das Wort Gottes wie ein Samenkorn in uns reifen kann. Es braucht die Haltung, die aufGott immer noch mehr vertraut als auf die eigenen, be­grenzten Fähigkeiten. – „Kommt und seht!“ – Amen.